Am Anfang war die Pille
Die drei Leben des Carl Djerassi
Wahrscheinlich wäre Carl Djerassi Arzt geworden wie seine jüdischen Eltern. Doch der Einmarsch der Nationalsozialisten in seine Heimatstadt Wien, wo er 1923 geboren wurde, beendete jäh die wohlbehütete Kindheit in einer bürgerlichen Familie. 1938 emigrierte er mit der Mutter über London in die Vereinigten Staaten.
Der Wissenschaftler
In der neuen Welt studierte der Flüchtling aus Europa im Eiltempo und promovierte 1945 als 21-Jähriger an der Universität von Wisconsin in organischer Chemie. Anschließend arbeitete er in der Industrie. 1949 wechselte er als Forschungsdirektor zur Syntex S.A. nach Mexico City. Mit 28 Jahren erfand Carl Djerassi hier am 15. Oktober 1951 die sogenannte "Antibabypille". Mittlerweile ist sie aus dem Alltag von über 80 Millionen Frauen nicht mehr wegzudenken. Mit dieser neuen Methode der Empfängnisverhütung veränderte sich das Bewusstsein der Gesellschaft radikal, auch wenn verschiedentlich gesundheitliche und moralische Zweifel aufkamen.
Für den heute 76-jährigen, noch aktiven Stanford-Professor war die "Pille" der Beginn eines erfolgreichen Wissenschaftlerlebens. Carl Djerassi, der zu den fünf bedeutendsten Chemikern der Welt zählt, hat bei der Synthetisierung von Cortison entscheidend mitgeforscht und bei der Schädlingsbekämpfung wichtige Entdeckungen gemacht. Er legte bislang mehr als 1.200 wissenschaftliche Publikationen vor und hat zahlreiche Auszeichnung erhalten, darunter 18 Ehrendoktorate. Die wichtigste Ehrung, der Nobelpreis, blieb jedoch aus. Auch wenn er die Krönung seines Wissenschaftlerlebens wäre, Zeit ihm nachzutrauern, bleibt Carl Djerassi nicht. Seit fast 50 Jahren ist er überall auf der Welt unterwegs, als Gast oder Redner bei wissenschaftlichen Kongressen und Tagungen. Doch dem ehrgeizigen Chemiker - "ich bin ambitiös, wie viele andere Wissenschaftler, und dann noch zehn Prozent mehr" - reichte seine erfolgreiche Karriere nicht. Er suchte nach weiteren Betätigungsfeldern.
Der Kunstsammler, -stifter und -mäzen
Schon früh begann sich der gebürtige Österreicher mit der bildenden Kunst zu beschäftigen. Die Erfindung der "Pille" machte ihn finanziell unabhängig und erlaubt ihm seit Jahren ein zweites Leben als Kunstsammler, -stifter und -mäzen. Heute ist er der wohl bedeutendste Sammler von Werken Paul Klees. Carl Djerassi: "Was ist es, was mich an Klee interessiert? Er ist der intellektuellste von allen Malern. Er hat wirklich großen Einfluss auf viele andere Künstler gehabt. Er war ein Dichter. Musik war sehr wichtig für ihn. ... Für mich war er auch ein intellektueller Polygamist, wenn man es so nennen will."
Der intellektuelle Polygamist Djerassi, der in den 60er Jahren seinen ersten Klee "Pferd und Mann" für 18.000 Dollar erwarb, hat inzwischen einen Teil seiner großen Klee-Sammlung dem "Museum of Modern Art" von San Francisco überlassen. Nach seinem Tod gehen die mittlerweile über 120 Meisterwerke in den Besitz des Museums über. Doch nicht nur hier hat er dafür gesorgt, dass der Name Djerassi weiter wirkt. Seit 1997 kündet eine riesige Skulptur von George Rickey unmittelbar neben der städtischen Bücherei von der Dankbarkeit des Stifters an die zweite Heimat. Auch das Museum in Stanford bedachte er großzügig.
Doch sein endgültiges Denkmal setzte sich der Flüchtling aus Österreich mit seiner Stiftung: das "Djerassi Resident Artists Program" in den Bergen bei San Francisco. Vor 35 Jahren kam Carl Djerassi das erste mal hierher. Fasziniert von der Schönheit der Landschaft kaufte er nach und nach Land auf. Der Freitod seiner Tochter, einer Künstlerin, war für Carl Djerassi der Auslöser zur Gründung seiner Stiftung: "Ich wollte etwas Lebendes aus einem Selbstmord machen. Ein Selbstmord ist etwas ganz anderes als irgendein anderer Tod. Er ist eine Botschaft an die Überlebenden. Und wie man sie liest, die Botschaft, das kommt natürlich auf die Überlebenden an. Ich habe das auf meine Weise getan. Ich wollte etwas tun, dass ihr, glaube ich, sehr geholfen hätte, wenn es damals schon existiert hätte." Seit über 20 Jahren erweitern hier nun Maler, Bildhauer, Schriftsteller und Musiker als Stipendiaten für einige Monate ihre künstlerischen Fähigkeiten.
Der Schriftsteller
Neben dem Ruhm als Wissenschaftler und seinem Engagement als Sammler und Mäzen sucht Carl Djerassi seit einigen Jahren eine neue Herausforderung. Seine Frau, die zwanzig Jahre jüngere Autorin und Literaturprofessorin Diane Middlebrook, mit der er in dritter Ehe verheiratet ist, begeisterte ihn für London, wo er neben San Francisco eine zweite Heimat gefunden hat. Hier startete er 1987 sein drittes Leben als Schriftsteller.
Sehr erfolgreich schlägt Carl Djerassi in dem von ihm entwickelten Genre der "Science in fiction"-Literatur eine Brücke zwischen breiter Öffentlichkeit und der Wissenschaftswelt. Nach einer auf vier Bände angelegten Romanreihe - "Cantors Dilemma", "Das Boubaki Gambit", "Menachems Same" und "No" - und seiner Autobiographie "Die Mutter der Pille" (1992) hat er sich inzwischen dem Theater zugewandt. In San Francisco, London und Wien wurde sein erstes Stück "Unbefleckt", das die Zeugung aus der Retorte zum Thema hat, bereits aufgeführt. Am 29. Februar 2000 wird es im Kölner Theater am Tanzbrunnen seine deutsche Premiere erleben. Unterstützt von seiner Frau, die ihm zugleich Muse und Mentorin, Lektorin und Fan ist, arbeitet er derzeit an seinem zweiten Theaterstück. Carl Djerassi: "Für mich ist das literarische Schreiben ein ganz neues Leben. Ich könnte sagen, ich habe gerade meine Bar-Mizwa gehabt. Ich bin 13 Jahre alt als Schriftsteller - und das bei meinem Alter. Das ist ein wunderbarer Luxus zu sagen: Ich bin ein junger Mann. Ein neues Leben anzufangen ist wirklich phantastisch. Es geht noch herauf, ich verbessere mich noch sehr. Jedes Buch, das ich schreibe, ist meiner Meinung nach noch besser als das vorige."
Auch wenn der einstige Flüchtling Carl Djerassi in London und San Francisco gleich zwei Heimaten gefunden hat, treiben ihn Neugier und Dynamik rastlos weiter an, seine drei Leben als Wissenschaftler, Sammler und Schriftsteller mit aller Intensität auszuschöpfen: "Ich glaube immer, dass ich nicht genug Zeit habe, und versuche deshalb, zu viele Sache zur gleichen Zeit zu machen."
Buchtipps
- Carl Djerassi: Menachems Same.
Roman
Haffmans Verlag 1996
ISBN: 3-251-00311-9, Preis 39 Mark
- Carl Djerassi: NO.
Roman
Haffmans Verlag 1998
ISBN: 3-251-00391-7, Preis 44 Mark
- Carl Djerassi: Unbefleckt.
Ein Schauspiel
Haffmans Verlag 2000
ISBN: 3-251-00481-6, Preis 20 Mark
nächste Sendung:
Mittwoch, 1. März 2000, 22.30 Uhr WDR Fernsehen
Schwerte ist nicht Venedig. Eine Stadt findet ihren Autor
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