Wissenschaft im Theater - ein fehlendes
Genre
Frankenstein, Dr. Strangelove, weltfremde Intelligenzbestien -
so werden "Wissenschaftler" im allgemeinen in der schöngeistigen
Literatur dargestellt. Als ein Wissenschaftler, der sich zu einem
Schriftsteller entwickelt hat, habe ich das sehr selten genutzte
Genre der "Science-in-Fiction" gewählt, um in einer
Tetralogie in Form realistischer Romanhandlungen die menschlichen
Seiten echter Wissenschaftler und die persönlichen Konflikte
zu beschreiben, denen Wissenschaflter beim Streben nach Erkenntnis,
persönlicher Anerkennung und finanziellem Gewinn ausgesetzt
sind. Gleichzeitig habe ich mit einem hohen Grad an wissenschaftlicher
Genauigkeit einige ausserordentlich aufregende Entdeckungen aus
der modernen biomedizinischen Forschung in die Handlung verwoben.
So wie ich mit dieser Romantetralogie - Cantors Dilemma
(1989), das Bourbaki Gambit (1994), Menachems
Same (1997) und NO (1998) - das Gebiet der
Science-in-Fiction-Literatur betreten habe, habe ich mich jetzt
dazu entschlossen, in einer geplanten Trilogie von Theaterstücken
das noch seltenere Genre der Wissenschaft-im-Theater zu erkunden.
Ausgelöst wurde mein Interesse durch den jüngsten Erfolg
von Steven Poliakoffs Stück Blinded by the Sun,
das das National Theatre in London im vergangenen Jahr aufgeführt
hat - ein Stück, das viel Aufmerksamkeit in der Tages- aber
auch in der Wissenschaftspresse erregt hat. Aber selbst dieses
anspruchsvolle Stück, das in vielerlei Hinsicht einige der
charakteristischen Aspekte des Drangs eines Wissenschaftlers nach
namentlicher Anerkennung und die Konkurrenzsituation in einem
kollegialen Umfeld sehr gut beschreibt, versagt bei der Präsentation
"echter" Wissenschaft, die in sich diesem Falle auf
die kalte Fusion bezieht, ein vor einigen Jahren hochaktuelles
Thema. Die Wissenschaft in diesem Stück stellt sich als sinnloses
Kauderwelsch dar, von dem man kaum annehmen kann, dass es ein
Publikum erhellt, das eher neugierig auf als kenntnisreich über
die Naturwissenschaften ist.
Ein Ausschnitt:
ELINOR: Ist es Anatas oder Rutil?
Sie haben offenkundig keinen adsorbierten Farbstoff verwendet,
um das Absorptionsmaximum zu verschieben..
CHRISTOPHER: Die Partikel sind von
einer Schicht überzogen, die durch Elektrodeposition erzeugt
wurde. Diese ist nur einige Nanometer dick, deshalb sorgt das
Abgleichen des Brechungsindex
ELINOR: Klar, das gibt dann sicher
eine hohe Quantenausbeute. Vielleicht wurde auch eine sulfoniertes
Tensid hinzugegeben, um den Stofftransport auf der Oberfläche
zu vergrössern?
CHRISTOPHER: Nein, nein. Es ist eher
ein katalytisches System
So stellt sich der kleine Moritz Wissenschaft(ler) vor! Aber selbst
neunmalkluge Chemiker reden nicht so. Hat Poliakoff sie so sprechen
lassen, damit die Theaterzuschauer die wirkliche Chemie gar nicht
verstehen sollen ?
Kluge Theaterautoren wie Poliakoff - oder Hugh Whitemore (Breaking
the Code), Tom Stoppard (Arkadien), Friedrich
Dürrenmatt (Die Physiker) und Bertolt Brecht
(Leben des Galilei), um einige der
herausragenden früheren Beispiele zu erwähnen - haben
die Wissenschaft aus dramaturgischen Gründen verwendet, nicht
weil die Wissenschaft essentiell für die dramatische Entwicklung
war. In meiner geplanten Trilogie interessiert mich die umgekehrte
Vorgehensweise: Ich möchte das Theater als Vehikel für
wissenschaftliche Aufklärung benutzten, die Wissenschaft
soll eine zentrale, keine periphere Rolle spielen - und sie soll
wissenschaflichen Ansprüchen genügen.
Selbst für Wissenschaftler ist es schwierig, sich ohne Nutzung
einer Tafel oder von Diapositiven oder anderen bildlichen Darstellungen
wirkungsvoll zu unterhalten. Deshalb es ist auch kein Wunder,
dass die ausschliessliche Behandlung wissenschaftlicher Themen
in Dialogform, wie es in Blinded by the Sun geschieht,
häufig wie auf einer zweiten Sprachebene daherkommt. In dieser
Hinsicht scheint sich übrigens die Mathematik deutlich von
den Naturwissenschaften zu unterscheiden, ist sie doch im Drama
korrekt dargestellt worden. Möglicherweise liegt das daran,
dass mehr Wert auf mathematische Konzepte als auf komplizierte
Formeln gelegt wurde. Sowohl Hugh Whitemores Breaking
the Code als auch Tom Stoppards Arkadien
sind Beispiele für höchst erfolgreiche Theaterstücke,
mit Szenen, in denen wirkliche Mathematik vorkommt, obwohl man
sich selbstverständlich auch hier fragen kann, was der durchschnittliche
Theaterbesucher verstanden hat, geschweige, woran er sich später
erinnert, wenn er etwas über eine Turing Maschine (Breaking
the Code) oder Fermats Letztes Theorem (Arkadien)
gehört hat. Liegt es an dem wissenschaftlichen Analphabetentum
der breiten Öffentlichkeit oder dem Fehlen audiovisueller
Hilfsmittel - oder beider - dass es eine offenbar undurchdringliche
Barriere gibt, die es verhindert, interessante moderne Wissenschaft
auf die heutige Bühne zu bringen ?
Statt Themen aus der gegenwärtigen Chemie oder Physik zu
wählen, die nun einmal eine komplizierte und abstrakte Terminologie
erfordern, habe ich mich für eine Thema aus dem biologischen
Bereich entschieden: Der Forschung an der vordersten Front der
Reproduktionsbiologie. Schliesslich kann jeder auf die eine oder
andere Art und Weise etwas mit Fortpflanzung und Sexualität
anfangen. - und die Terminologie ist viel einfacher.
Wenn Sie einen ersten Blick auf dieses neue Genre der "Wissenschaft-im-Theater"
werfen wollen, dann klicken Sie ICSI an, ein Theaterstück,
in das ein Echtzeitvideo eingebaut ist, das die Injektion einer
einzelnen Samenzelle in ein Ei zeigt: Intracytoplasmatische Spermainjektionstechnik
- nicht anderes bedeutet ICSI.
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