Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung 17

29.04.2005


Ein intellektueller Bigamist

IM GESPRÄCH*Carl Djerassi, der Erfinder der Anti-Baby-Pille, über die Zukunft der Fortpflanzung, seine zweite Karriere als Bühnenautor und die Kluft zwischen Naturwissenschaft und Literatur

Je mehr man über Carl Djerassi erfährt, desto eher ist man geneigt zu glauben, dass dieser Mann entweder im falschen Jahrhundert lebt oder einen Doppelgänger gleichen Namens hat. Denn der "Vater der Antibabypille" ist nicht nur ein weltbekannter Chemiker, sondern auch ein erfolgreicher Romancier und Dramatiker. Und weil ihm das anscheinend nicht reicht, steckte er einen Teil seines Geldes in eine Künstler-Stiftung und besitzt eine der größten privaten Sammlungen von Bildern Paul Klees.

1923 als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie in Wien geboren, musste er 1938 vor den Nazis zunächst nach Bulgarien und dann weiter in die USA fliehen. Erst mit seinen literarischen Werken und ihrer Übersetzung ins Deutsche fand Djerassi in den achtziger Jahren wieder zurück in sein Geburtsland. Als Wissenschaftler hat der heute 82-jährige Djerassi, den man auf höchstens siebzig schätzen würde, mehr als 1.200 Aufsätze und sieben Monografien veröffentlicht. Seine Leistungen haben ihm weit mehr als ein Dutzend Ehrendoktorate, die National Medal of Technology sowie 1992 die Priestley-Medaille eingetragen, die höchste Auszeichnung der Amerikanischen Chemischen Gesellschaft.

In einem Alter, in dem sich seine Kollegen zur Ruhe setzen, fing Djerassi an, literarisch zu schreiben. Er veröffentlichte zunächst mehrere Romane (u.a. Cantors Dilemma, No) und sattelte dann nochmals um. Heute ist er ein international erfolgreicher Bühnenautor und schreibt gerade an seinem sechsten Stück, ein anderes wird im Mai in Zürich seine Weltpremiere als Kammeroper finden. Djerassis Autobiografie ist unter dem Titel Die Mutter der Pille auf Deutsch erschienen.



FREITAG: Als Erfinder der Antibabypille haben Sie nachhaltig zur Veränderung unseres Umgangs mit Sex beigetragen. Wie sehen Sie die Lage der Sexualität am Beginn des 21. Jahrhunderts?
CARL DJERASSI: Offensichtlich ist, dass die Trennung von Sex und Reproduktion noch weiter fortschreitet, was im Übrigen auch das Thema meines ersten Theaterstücks Unbefleckt ist. Das Interessante dabei ist, dass Sex ohne Reproduktion allem Anschein nach in keinem Land der Welt üblicher ist als in Italien, gewissermaßen dem Heimatland der katholischen Kirche. Eine italienische Frau hat im statistischen Durchschnitt 1,1 Kinder. Das bedeutet aber auch: Wenn Sie als Frau ein Kind geboren haben und dann keines mehr wollen, dürften Sie - zumindest laut katholischer Kirche - eigentlich keinen Sex mehr haben. Sex ohne Reproduktion ist inzwischen selbstverständlich geworden. Neu ist, dass auch immer mehr Reproduktion ohne Sex stattfindet, nämlich durch künstliche Befruchtung.

Warum sollten sich mehr Frauen als bisher diesen Strapazen unterziehen, wenn sie auch ohne künstliche Hilfe Kinder bekommen können?
Wenn man ein Kind haben will, ist es einerseits natürlich viel schöner und einfacher, es im Bett oder sonst wo zu machen als unter dem Mikroskop im Labor. Andererseits wollen immer mehr Frauen ihre Kinder nicht schon Anfang 20 haben, was - rein biologisch betrachtet - der ideale Zeitpunkt wäre, sondern zuerst einmal in einem Beruf Karriere machen. Wenn Frauen allerdings erst mit Ende dreißig das erste Kind bekommen, dann hat das Baby ein sehr viel höheres Risiko, mit dem Down Syndrom zur Welt zu kommen: Bei Frauen mit 39 Jahren ist dieses Risiko fast sechs Mal so hoch wie bei Frauen unter 34. In der nahen Zukunft wird eine einfache Lösung dieses Problems sein, dass Frauen mit 20 ihre Eizellen einfrieren lassen und dann erst Jahre später befruchtet werden - anstatt mit älteren Eizellen das Risiko einzugehen, ein behindertes Kind auszutragen.

Es gibt aber auch die Möglichkeit der Fruchtwasseruntersuchung, die das verhindert.
Das stimmt. Allerdings könnte man sich heute die Fruchtwasseruntersuchungen bei zwei oder drei Monate alten Embryos dadurch ersparen, dass man sie an einem mehrzelligen Embryo noch außerhalb des Mutterleibs durchführt. Das ist durch die neuen genetischen Untersuchungsmethoden längst möglich. Es gibt Tausende von Frauen, die es bevorzugen würden, einen zwei Tage alten Embryo mit vielleicht 16 Zellen außerhalb des Mutterleibs zu untersuchen, als einen drei Monate alten Fötus, der dann womöglich abgetrieben werden müsste.

Diese Form der Präimplantationsdiagnostik ist in Deutschland verboten.
In anderen Ländern aber nicht. Also wird man über kurz oder lang einen Medizintourismus haben - zumindest bei denen, die es sich leisten können. Ich denke allerdings, dass diese Verbote bald verschwinden werden.

Sehen Sie aber nicht auch die Gefahr des Missbrauchs dieser Methoden zu eugenischen Zwecken - also zur Fabrikation von "Wunschbabys"?
Als von den Nazis vertriebener Emigrant kann ich diese Bedenken gut verstehen, und ich habe volles Verständnis dafür, auch wenn sie meines Erachtens unlogisch sind. Zum einen, weil die Eugenik der Nazis auf einer staatlichen und gesetzlichen Ebene stattfand. Zum anderen gibt es diese Form der Eugenik ja auch schon bei der Fruchtwasseruntersuchung. Wenn es also darum geht, mit genetischen Markern Embryos auf gewisse Krankheiten zu untersuchen, sehe ich kein Problem. Gefährlich wird es aber bei der Modifikation von Genen.

Wo aber soll man die Grenzen ziehen?
Das ist eine wichtige Frage. Und das ist mit ein Grund, warum ich Theaterstücke schreibe. Eines meiner Stücke ist beispielsweise ein Dialog zwischen einem Arzt und einer Frau, die politisch "grün" eingestellt ist, in dem genau diese Fragen behandelt werden. Und auf jede dieser Fragen gibt es ein Pro und ein Contra.

Wie kam es eigentlich, dass Sie vergleichsweise spät in Ihrem Leben - nach einer erfolgreichen Karriere als Chemiker - überhaupt mit dem Schreiben zuerst von Romanen und jetzt von Theaterstücken anfingen?
Das begann vor zwanzig Jahren. 1985 war für mich ein sehr bewegtes Jahr: Ich heiratete meine dritte Frau, und ein paar Monate später wurde entdeckt, dass ich einen Tumor hatte und sofort in ein Spital musste - obwohl ich bis dahin völlig gesund war. Und da sah ich zum ersten Mal, dass die Zeit knapp werden könnte, um noch ein anderes intellektuelles Leben zu führen. Und so schrieb ich meinen ersten Roman Cantors Dilemma. Es hat sich dann nicht nur herausgestellt, dass die Operation ein voller Erfolg war, sondern auch, dass es mit dem Schreiben klappen könnte. Und so entschloss ich mich 1992, mein Labor langsam zuzusperren.

Sie hatten doch ursprünglich vor, noch mit 100 Jahren Professor zu sein.
Das stimmt. Doch 2002 habe ich mich endgültig entschlossen, mit 80 damit aufzuhören, um mich ganz auf das Schreiben konzentrieren zu können.

Haben Sie eigentlich eine Ausbildung als Schriftsteller?
Nein, ich bin sowohl als Romancier wie auch als Dramatiker ein totaler Autodidakt. Ich war aber mein ganzes Leben lang ein Leser. Außerdem zählen das Theater und die Oper zu meinen lebenslänglichen Leidenschaften. Ich sehe dreißig bis vierzig Theaterstücke pro Jahr, und das seit Jahrzehnten.

Woher kommt diese Leidenschaft für das Theater, die für einen Chemiker, der die meiste Zeit seines Lebens in Kalifornien verbracht hat, doch recht ungewöhnlich ist?
Ohne jetzt sentimental werden zu wollen, denke ich doch, dass das mit meiner Kindheit in Wien zu tun hat. Mein Vater hat mich schon mit vier mit in die Oper genommen. Und der erste Theaterbesuch, an den ich mich erinnere, war Nathan der Weise im Burgtheater. Ich musste mit vierzehneinhalb Jahren emigrieren, doch wenn ich bis dahin in den USA gelebt hätte, wäre das Theater wohl an mir vorübergegangen.

Haben Sie eigentlich Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?
Ich interessiere mich weniger für Komödien oder Musicals, sondern vor allem für das seriöse Theater. Ich meine damit nicht nur die Klassiker, sondern vor allem das moderne englische Theater - also Stücke von Autoren wie Tom Stoppard oder Harold Pinter, die auch intellektuell herausfordernd sind. Das sind Dramatiker, die ich auch gerne lese. Auch ich versuche, Stücke zu schreiben, die man lesen kann. Dafür müssen sie aber auch einen intellektuellen Inhalt haben.

Diese Inhalte sind zumeist Themen aus den Naturwissenschaften ...
... so wie bei meinen ersten drei Romanen, die ich deshalb "Science-in-Fiction" genannt habe. Meine ersten drei Stücke sind entsprechend "Science-in-Theatre" und handeln von ganz unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Themen. Es interessiert mich, diese Kluft zwischen den zwei Kulturen - also den Naturwissenschaften auf der einen und der Literatur bzw. dem Theater auf der anderen Seite - zu überbrücken. Doch obwohl diese Stücke mittlerweile in vielen Ländern gespielt werden, blieben die Rezensenten und Theaterleute zum Teil etwas voreingenommen, so nach dem Motto: Die Naturwissenschaften bestimmen ohnehin schon die Welt und jetzt wollen sie auch noch das Theater erobern. Deshalb habe ich mich entschlossen, künftig Stücke zu schreiben, die nicht direkt mit den Naturwissenschaften zu tun haben. Das erste davon war EGO, das seine Premiere im St. Poeltner Landestheater im Oktober haben wird und das neueste heißt Phallacy, in dem es um einen unbekannten Streit rund um eine Plastik im Kunsthistorischen Museum in Wien geht. Das hat im April in London Premiere.

Apropos Kunst: Sie besitzen auch eine der größten privaten Sammlungen von Bildern Paul Klees, die im Sommer 2002 auch in Krems in Niederösterreich zu sehen war. Wie kam es denn dazu?
Am Anfang meiner seriösen Sammlertätigkeit in den sechziger Jahren - vorher konnte ich mir das nicht leisten - stand mein Interesse für künstlerische "Bigamisten", konkret: für Maler, die auch Bildhauer oder umgekehrt sind. Also habe ich Bilder und Skulpturen von Picasso, Giacometti, Degas oder Marini gesammelt. Die einzigen Ausnahmen waren Paul Klee und Egon Schiele. Und dann habe ich mich auf Klee konzentriert.

Warum?
Schiele hat meiner damaligen Frau nicht gefallen. Und wenn man zu Hause mit Kunst lebt, dann hängt man sich nicht Sachen an die Wand, die jemanden in dieser Wohnung irritieren. Die Entscheidung war damals nicht Klee oder Schiele, sondern ob ich Schiele und Klee sammeln wollte.

Wenn Sie die Wahl hätten, für den würden Sie sich entscheiden?
Eindeutig Klee. Das hat damit zu tun, dass Schiele begrenzter ist. Er ist phantastisch bei der Darstellung von Körpern und Landschaften. Aber man kann einen Schiele sofort erkennen. Das ist bei Klee nicht so. Als ein Teil meiner Sammlung in Krems gezeigt wurde, war auch Alexander Klee dort, sein Enkel. Er hat ungefähr tausend Klees und ist ein absoluter Fachmann. Er war sehr verwundert über einige der Bilder, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Was mich bei Klee interessiert, sind die nicht-typischen Bilder von ihm. Er hat immer an zehn bis zwanzig Sachen gleichzeitig gearbeitet - mit völlig unterschiedlichen Techniken, Materialien und Themen. Ich habe Bilder von ihm, die zwei Monate auseinander liegen. Und wenn ich die beiden nebeneinander hänge, was ich bei mir zu Hause tue, würde niemand sagen, dass sie vom selben Künstler sind. Bei Schiele gibt es das nicht.

Haben Sie die anderen Kunstwerke auch bei sich zu Hause?
Kaum. Ich habe meine ganze Kunstsammlung schon vor vielen Jahren bis auf die Bilder von Klee verkauft, um damit meine Künstler-Stiftung zu finanzieren. Ich habe bloß zwei Dutzend Klees in meiner Wohnung, und diese Auswahl ändere ich alle sechs Monate. Die anderen Klees hängen in der Djerassi-Gallery des San Francisco Museum of Modern Art, wo sie ebenfalls alle sechs Monate gewechselt werden. Meine übrigen Klee-Bilder befinden sich im Speicher des Museums.

Sammeln Sie immer noch?
Ja. Das Auktionshaus Sotheby´s in London hat mir erst kürzlich den Katalog einer Versteigerung mit einigen Klees geschickt. Ich habe da eine Klee-Zeichnung gefunden, die Der Fagottspieler heißt. Zufällig spielt bei der erstmaligen Musikfassung eines meiner Theaterstücke, die im Mai in Zürich Premiere haben wird, das Fagott die musikalische Hauptrolle, da der Komponist Werner Schulze auch ein Fagottspieler ist. Also habe ich arrangiert, dass ich bei der Versteigerung dieser Zeichnung dabei sein kann. Leider bin ich da gerade in den Vereinigten Staaten, und die Versteigerung beginnt um 13 Uhr. Ich werde also um fünf Uhr früh aufstehen und mitbieten.

Das Gespräch führte Klaus Taschwer