SZ AM WOCHENENDESamstag, 3. März 2001
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Karin Steinberger

Der Mann, der die Frauen befreite

Vor fünfzig Jahren synthetisierte der amerikanische Chemiker Carl Djerassi das Hormon Gestagen, die Grundlage der Antibabypille

Wenn Carl Djerassi zu reden anfängt, schweigt man erst einmal. Zunächst aus Verwirrung – denn seine Sprache ist genau so heimatlos wie er selbst. Der Erfinder der Pille spricht ein Amerikanisch, durch das die Melodie Wiens summt, die Coolness britischen Understatements und die Exotik Bulgariens. Es ist ein derart betörendes Gemisch, dass man anfangs nur auf seine Stimme hört, erst später auf die Inhalte. Zunächst ist Carl Djerassi also nur ein Geräusch – ein unglaublich einlullendes, charmantes, bezauberndes Geräusch.

Dass hinter diesem Geräusch die nicht ganz so betörende Formelwelt der Chemie lauert, merkt man zunächst nicht. Carl Djerassi wäre wohl nie zum Star unter Amerikas Biochemikern geworden, wenn er nicht schon immer gewusst hätte, dass man das Publikum mit leicht konsumierbarem Beiwerk verführen muss, wenn man ihm ein paar harte Fakten unterjubeln will.

Djerassi war schon immer ein Besessener, der sich – zum Ärger seiner drei Ehefrauen – nächtelang im Labor herumtrieb. Er war noch keine 28 Jahre alt, als er das Cortison und wenig später das Schwangerschaftshormon Gestagen synthetisiert hatte – Grundlage für die Entwicklung der Antibabypille. 50 Jahre ist das nun her. Seitdem gilt er als „Vater der Pille“, als der Mann, der die sexuelle Revolution mit ausgelöst hat. Er selbst bezeichnet sich lieber als „Mutter der Pille“, wohl nicht zuletzt deswegen, weil eine Mutter mit Bart einfach mehr Aufsehen erregt.

Schillernder Exot

Ob der Professor aus Stanford nun in der legendären Royal Institution in London auftritt, auf Fachkongressen oder bei Sabine Christiansen: Djerassi gilt sowohl in elitären wissenschaftlichen Kreisen als auch beim Massenpublikum als ein Grenzgänger: Er ist einerseits hochdekorierter Chemiker und andererseits schillernder Exot, von dem keiner so genau weiß, was eigentlich von ihm zu erwarten ist. Auf der Party zum 90. Geburtstag des mittlerweile verstorbenen Nobelpreisträgers Linus Pauling in San Francisco erschien er in Lackschuhen mit Wildledereinsatz und einem elisabethanischen Wams aus schwarzem Samt. Überhaupt sind die Geschichten aus Carl Djerassis Leben nicht die schlechtesten. Timothy Leary zum Beispiel fragte ihn einmal, ob er ihm nicht ein wenig LSD machen könne. „Natürlich nicht“, antwortete der Chemiker.

Djerassi ist ein begnadeter Selbstdarsteller. Er weiß, dass all diese Extravaganzen ihn erst zu dem machen, was er ist: zu einem Gesamtkunstwerk, das sich schon aus Prinzip jeder Art von Einordnung entzieht. Er ist zu elegant für einen Amerikaner, zu geschäftsbewusst für einen Wissenschaftler, zu ambitioniert für einen Geschäftsmann, zu besessen für einen Erfolgsmenschen und zu akkurat für einen Romantiker.

Djerassi ist nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Schriftsteller, Kunstmäzen, Geschäftsmann, Lebenskünstler und einer, der in seinen Vierzigern Frauen ebenso leidenschaftlich gesammelt hat wie Werke von Paul Klee. Erfolg hatte er in allen Sparten – nur nicht in der Filmbranche. Und wenn es nach ihm ginge, könnte noch die eine oder andere Karriere dazukommen. Jeder, der etwas über ihn schreiben will, wird jedenfalls darauf hingewiesen, dass es in seinem Leben nicht nur eine berichtenswerte Vergangenheit, sondern auch eine berichtenswerte Zukunft gibt. Carl Djerassi mag 77 Jahre alt sein, aber fertig ist er mit seinem Leben noch lange nicht.

Es gibt da noch einige ungeklärte Fragen. Wer kümmert sich um die Pille für den Mann? Werden die Frauen ein bisschen mehr Östrogen in die Männerkultur der Wissenschaften bringen? Was wird aus dem Sex in den Zeiten künstlicher Befruchtung? Immer wieder spricht er über die Intrazytoplasmatische Sperma-Injektion (ICSI), über die Rolle der Familie in Zeiten der beliebigen Reproduzierbarkeit und in letzter Zeit immer öfter über die Wissenschaft in der Literatur oder im Theater.

Auch wenn Djerassi die Pille keineswegs als seine wichtigste wissenschaftliche Entdeckung sieht, so weiß er doch, dass es die Antibabypille ist, die ihn berühmt gemacht hat. Und da Anerkennung Balsam für sein „verletztes chemisches Ego“ ist, genießt er seine Berühmtheit ebenso wie all die Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Medaillen, die er bekommen hat. Nur zum Nobelpreis hat es nie gereicht, dem „Everest der Organiker“. Dass ihn das verletzt, gibt er offen zu. An Eitelkeit hat es ihm noch nie gemangelt.

Doch als ihn letztes Jahr eine österreichische Zeitschrift zum „größten lebenden Österreicher“ ernannte, hatte er mit dieser Auszeichnung dann doch so seine Schwierigkeiten, denn als Österreicher sieht sich der 1923 in Wien als Sohn eines jüdischen Ärztepaares Geborene nun wirklich nicht. „Das ist immerhin das Land, das mich rausgeschmissen hat“, sagt er.

Sehr viel mehr als seinen Akzent und einen Heißhunger auf vor Butter triefende Germknödel hat Djerassi aus seiner Geburtsstadt nicht mitgenommen. Er hat es den Österreichern bis heute nicht verziehen, dass sie ihn 1938 vertrieben haben. Aus seiner Kindheit erzählt er nur, dass er in Wien die gleiche Schule besucht hat wie Sigmund Freud.

Seitdem Carl Djerassi sich vor ein paar Jahren auch als „Science-in-fiction“-Schriftsteller geoutet hat, wird er immer mehr zum Nestbeschmutzer. Seine Romanhelden sind Krebsforscher, die schon mal eine Manipulation verschweigen, um den Nobelpreis zu bekommen. Oder Reproduktionsbiologinnen, die ihrem Geliebten einen Samenerguss klauen, um sich später unter dem Mikroskop selbst zu befruchten. Das hat man ihm in Kollegenkreisen allerdings wider Erwarten nicht übel genommen.

Erst seit seiner Wandlung vom Naturwissenschaftler zum Science-in-fiction-Autor beschäftigt sich Carl Djerassi mit den sozialen Folgen seiner chemischen Meisterleistungen. Und so sind alle seine Romane, Theaterstücke und Gedichte immer auch ein wenig Rechtfertigung – Rechtfertigung für jene ungezügelte Wissenschaftsgläubigkeit, der auch er mit Vergnügen erlegen ist.


Bildunterschrift:

Ein begnadeter Selbstdarsteller: der Biochemiker, Schriftsteller, Kunstmäzen und Geschäftsmann Carl Djerassi

Foto: AP (Andy Newman)

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